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Sich wieder über die alltäglichen Dinge freuen können, dafür bin ich dankbar.

Prof. Dr. Christoph Bielitz über aktuelle Herausforderungen der „Corona-Krise“

Der Schlüssel liegt in der Authentizität

Was sind aktuell Ihre größten oder wichtigsten Herausforderungen bei der Arbeit mit Patienten?
Für das Fachgebiet der Psychiatrie und Psychotherapie ergeben sich durch die Corona-Pandemie zum Teil sehr spezifische und komplexe Herausforderungen. Gerade weil wir wissen, dass psychische Erkrankungen bei vielen unserer Patienten in besonderem Maße mit Angst verbunden sind, halten wir einen sehr konsequenten und seriösen Umgang mit dem Coronavirus für geboten; wir beteiligen uns daher nicht an unangemessenen Debatten, Gerüchten und thematisch überzogener Ausgestaltung. Wir nehmen diese Erkrankung sehr ernst: So werden Patienten, bei denen der Verdacht einer Infektion mit dem Coronavirus besteht, umgehend isoliert und die Infektion labordiagnostisch geprüft. Ein stets weiterentwickeltes Hygienekonzept sichert die Aufrechterhaltung des Klinikbetriebes.

Wie hat „Corona“ Ihre Kommunikationsstrategie beeinflusst?
„Charakter zeigt sich in der Krise.“ Die Worte von Altbundeskanzler Helmut Schmidt unterstreichen wie wichtig es ist, gerade in Krisenzeiten schnell, transparent und vor allem authentisch zu kommunizieren. Es war mir deshalb ein persönliches Anliegen die umfangreichen Patienten- und Mitarbeiterinformationen im April 2020 mit zwei öffentlich zugänglichen Video-Statements zu ergänzen. Diese geben Einblicke, wie das Sigma-Zentrum insbesondere zu Beginn dieser besonderen Situation handelte, welchen Beitrag die Klinik leistet und welche Folgen und Chancen sich daraus für das Gesundheitswesen ergeben. Die Rückmeldung von Patienten und Mitarbeitern zu den jeweils aktualisierten Informationen waren durchweg positiv. Wir haben es so geschafft, den Gemeinsinn und die Verantwortung zu stärken.

Welche psychosozialen Folgen sehen Sie auf unsere Gesellschaft zukommen, wenn wir uns eines Tages wieder im normalen Alltag zurechtfinden dürfen? Oder wird es diesen Alltag wie zuvor Ihrer Ansicht nach nie mehr geben?
So wie dieses Virus ein kollektiver Stresstest für die Psyche jedes Einzelnen ist, so gilt dies auch für die Gesellschaft. Es ist davon auszugehen, dass „Corona“ psychische Erkrankungen und leider wohl auch die Zahl der Suizide steigern wird. Auch wenn wir in Zukunft hoffentlich reflektierter und bewusster leben werden, ist davon auszugehen, dass die aktuelle Belastung zunächst energiezehrend ist und viele Menschen ängstlich, depressiv, erschöpft und einsam werden lässt. Aber es wird weltweit angedacht werden zu den Themen Reisen, Handel, Prophylaxe, Krisenmanagement und Gesundheitsstrukturen. Meine Haltung ist, dass in Deutschland ein Ruck durch das Gesundheitswesen geht und die Leistungserbringer gestärkt werden durch mehr Planungssicherheit und Wertschätzung.

Mit welchen seelischen Erkrankungen, Traumata oder Ängsten müssen wir in Zukunft rechnen und wie bereiten Sie sich darauf vor?
Schon vor der Corona-Pandemie war eine deutliche Zunahme von somatoformen Schmerzstörungen festzustellen. Es ist damit zu rechnen, dass in Zukunft auch Traumafolgestörungen, Ängste und Süchte (z. B. Mediensucht) verstärkt auftreten. Im Sigma-Zentrum haben wir deshalb drei leitlinienbasierte Sigma-Behandlungskonzepte umgesetzt, in welchen wir unsere langjährigen Erfahrungen mit den evidenzbasierten Vorgaben verknüpfen.

In welchem Verhältnis werden sich künftig beruflicher Leistungsdruck und Stresssyndrome begegnen? Wird hier eine neue Gewichtung stattfinden, auch unabhängig von „Corona“?
Der Schlüssel liegt zunächst in differenzierterer Bewertung des Stresserlebens. Gerade in Krisenzeiten kommt es – beruflich und privat – mehr denn je auf das Miteinander, auf gute Beziehungen, konstruktive Partnerschaften und gelebte Wertegemeinschaften an. Es stellt sich immer mehr heraus, dass Authentizität eine außerordentlich hohe Bedeutung für die Gesundheit hat. Authentischer leben heißt bewusster, achtsamer und damit auch gesünder leben. Für mich persönlich gehört dazu auch die künstliche Trennung von „Work“ und „Life“ aufzuheben. Wenn wir Arbeitszeit als Lebenszeit begreifen, dann müssen wir auch nicht mehr einer „Work-Life Balance“ hinterherjagen. „Corona“ wird die Haltung zu Arbeit, Arbeitsprozessen, Kommunikation und Meetings verändern.

Welche Rolle spielt Authentizität in Ihrem Fachgebiet?
In Bezug auf die Psychotherapie bedeutet Authentizität keine Sicherheit vorzutäuschen, wo keine ist. Schon der 1994 verstorbene Philosoph Sir Karl Raimund Popper kritisierte Theorien wie etwa den Marxismus und die Psychoanalyse, weil sie sich seiner Meinung nach gegen Einsprüche und Gegenargumente immunisierten. Gerade die moderne Psychotherapie lebt von der Falsifizierbarkeit der Hypothesen; es geht nicht um ewige Gültigkeit, sondern darum, Hypothesen immer wieder zu hinterfragen und sich so der Wahrheit zu nähern.

Welche Chancen sehen Sie in der Krise?
Ich gehe davon aus, dass wir als Gesellschaft an dieser existenziellen Krise wachsen werden. Große Hoffnung leite ich von der volkswirtschaftlichen Kondratieff-Theorie der „langen Wellen“ ab. Diese zeigt, dass sich die neuen Märkte immer an den knappen Produktionsfaktoren entwickelt haben. Bisher hat Technik Ressourcen eingespart: Dampfmaschine, Eisenbahn, elektrischer Strom, Auto und zuletzt die Informationstechnologie haben zu ihrer Zeit zusätzliches Material und Zeit freigesetzt, das für anderes verwendet werden konnte – so wuchs der Wohlstand. Die größten Produktivitätsreserven der Zukunft sind in Daten und im immateriellen Bereich der Wissensarbeit zu heben. Produktivität ist in wachsendem Maße automatisiert, aber es wird nicht ohne Menschen gehen. Die hierfür erforderlichen Charaktereigenschaften wie Authentizität, Kritikfähigkeit und Demut hängen unmittelbar mit der Qualität der psychosozialen Gesundheit zusammen.

Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
Diese Sicht hilft die Zukunft zu gestalten: Erstmals in der Geschichte stehen jetzt nicht mehr nur technische Innovationen im Vordergrund; es geht nun darum, wahrhaftig in den Menschen zu investieren, der in einer von der Vernetzung von Wissen abhängigen Gesellschaft zum „Flaschenhals“ der Produktivität wird. Die Erhaltung der psychosozialen Gesundheit der Mitarbeiter ist für die auf die Vernetzung von Wissen und die Erhaltung von unternehmensspezifischem Wissen und Stammbelegschaft angewiesenen Unternehmen überlebensnotwendig und Existenzsicherung zugleich. Hierfür braucht es eine neue Kultur der Zusammenarbeit und Investitionen in die Gesunderhaltung des Einzelnen. Beides beeinflusst unmittelbar die Qualität der Vernetzung, die Dauer der produktiven Lebensarbeitszeit bzw. die Amortisationszeit der teureren Investments in Aus- und Weiterbildung und damit die Produktivität von Unternehmen und Volkswirtschaften.

Was hat das für konkrete Folgen?
Wir werden den seit Klinikgründung konsequent verfolgten Weg der Unterstützung der Mitarbeiter für Aus- und Weiterbildung nicht verlassen. Dies gilt ebenso für den Wissenstransfer intern. Ich halte es für einen fatalen Irrtum, wenn nicht methodenintegrativ, sondern nur verhaltenstherapeutisch gearbeitet wird. Da ich Verhaltenstherapeut bin, darf ich das auch getrost sagen.

Was können Sie in diesem Bereich anbieten?
Die Prognose zur Heilung psychischer Erkrankungen ist besser, je früher diese erkannt und professionell behandelt werden. Damit es gar nicht erst so weit kommt, haben wir im Anfang März eröffneten Sigma-Institut im Ärztehaus beim Freiburger Diakoniekrankenhaus das Behandlungsspektrum erweitert: Schon in einem sehr frühen Stadium der Beeinträchtigung bietet der neu konzipierte Bereich der Individualprävention Selbstzahlern die Möglichkeit, von einer ganz auf die eigene Person und Situation fokussierten
psychologischen Diagnostik und Beratung zu profitieren. Sollte im weiteren Verlauf eine psychosomatische und psychiatrische Abklärung erforderlich werden, bieten Früherkennungszentrum und Ambulanz für jeden privatversicherten Ratsuchenden und Patienten einen diskreten Zugang zu einer integrativen Beratung und Therapie. Mit diesem Stufenmodell trägt das Sigma-Institut der Tatsache Rechnung, dass die Grenzen von einfacher, vorübergehender und ernster psychischer Beeinträchtigung oft fließend sind.

 

Aktuelle Corona-Regelungen im Sigma-Zentrum