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Mich wieder mit klarem Kopf auf die Partnerschaft konzentrieren zu können, das war das größte Geschenk.

Der alleingeborene Zwilling

Von: Dipl.-Psych. Sylke Aust | 18.12.2013

Eine entscheidende Frage bei unserer Anamneseerhebung ist immer die Frage nach der Geburt, eventuellen Komplikationen kurz vor, während oder nach der Geburt. Diese Frage reicht in ein Wissensfeld hinein, das erst in der neueren Zeit tatsächlich besser untersucht werden kann, von fragwürdigen Experimenten in utero in der Vergangenheit einmal abgesehen. So stehen wir vor dem Phänomen, dass wir zwar per Ultraschall davon ausgehen können, dass bei 8 – 10% aller frühen Schwangerschaften 2 oder mehr Embryonen in der Gebärmutter nisten, dass wir allerdings nicht wirklich sagen können, wie es dem überlebenden Zwilling damit geht, alleine geboren zu werden, andere „Mitbewohner“ zuerst zu spüren, dann nicht mehr. Wie fühlt ein Embryo/Fötus, ab wann, wie nimmt er andere Embryonen/Föten wahr, wie wirkt sich deren Tod auf ihn in Folge aus?

Alfred und Bettina Austermann haben sich mit diesen Fragen intensiv beschäftigt und sehen in manchen Ausprägungen von Störungsbildern aufgrund ihrer langjährigen Therapeutentätigkeit, in ihren systemischen Aufstellungsarbeiten und ihren Nachforschungen die Ursache in dem verlorenen Zwilling. Der Tod dieses in der Gebärmutter Mitlebenden wird als massiver Schock von ihnen gedeutet, der von dem Überlebenden nicht begriffen werden kann, nicht verarbeitet wird. Als Folgen sehen die beiden Therapeuten neben körperlichen Auswirkungen wie Hörschwierigkeiten vor allem bei dem Ohr, das dem anderen  am nächsten ist, Sehschwierigkeiten, Verwachsungen der Wirbelsäule, Dermoidzysten und Theratome (in denen sich Gewebeteile der verstorbenen Föten befinden können), sogar Gehirntumore als verzweifelter Ausdruck  der Liebe zu dem anderen oder Verwachsungen an den Geschlechtsorganen. Die Zusammenhänge zwischen Symptom und in utero verstorbenen Geschwistern fanden die Therapeuten in ihren zahlreichen Aufstellungen heraus. Als weitere psychosomatische  Auswirkungen benennen sie Schwindelanfälle, Enge in der Brust bzw. Herzschmerzen, Panikattacken, Todesangst, Schüttelfrost, Zitterkrämpfe und Herzrasen, für die es keine naheliegenden Erklärungen gibt, die aus der Körpererinnerung entstehen. Denn all diese in der Diagnostik unter Angstsymptomen laufenden Ereignisse signalisieren den Schockzustand, den wohl ein Fötus/Embryo erleben muss, wenn er spürt und hört, wie der andere in nächster Nähe stirbt, das Herz zu schlagen aufhört, die Bewegungen aufhören, das weiche Lebendige zu einem harten Klumpen wird. Diesem Erleben ist der Überlebende hilflos ausgeliefert. Auch Hauterkrankungen und Koliken können ihren Ursprung in diesem frühen traumatischen Erleben haben. Häufig haben alleingeborene Zwillinge Schuldgefühle (überlebt zu haben, dem anderen die Kraft geraubt zu haben), Einsamkeitsgefühle, ein starkes zu nahes Bedürfnis nach Beziehung  (Eifersucht) und körperliche Nähe (Hauthunger), Kraftlosigkeit, chronische Müdigkeit, Verfolgungsgefühle, Angst vor Berührungen, Träume vom Mörder und seinem Opfer, Neigung zu schweren Fehlschlägen und Misserfolgen im Beruf, Schwierigkeiten Kinder zu bekommen, Todessehnsucht (hohe Risikobereitschaft) nach dem verlorenen Zwilling. Natürlich gibt es für diese dysfunktionalen Verhaltensmuster auch andere Erklärungsmodelle aus kritischen life - events. Aber fehlen diese – was im klinischen Setting gar nicht allzu selten ist – eröffnen körperbezogene Verfahren, v.a. Therapien im Wasser, hypnotherapeutische Verfahren oder eben Systemaufstellungen zusammen mit biographischen Explorationen eine Hypothesenbildung in die pränatale Richtung. Wie erhellend Erkenntnisse sein können, wie erleichternd plausible Modelle über den Verlust eines oder mehrerer Geschwisterkinder im Mutterleib sein können, dazu geben Alfred Austermann und Bettina Austermann in ihrem Buch „Das Drama im Mutterleib. Der verlorene Zwilling“, Berlin 2006, Königsweg Verlag viele persönliche Schilderungen Betroffener.

Biographische Hinweise finden sich im übrigen bei künstlichen Befruchtungen (erhöhte Mehrlings- bzw. Zwillingswahrscheinlichkeit), durchgeführte Mehrlingsreduktionen zwischen der 12. und 14. Schwangerschaftswoche aufgrund einer Risikoschwangerschaft, Zwischenblutungen, Intuition oder Träume der Mutter. Objektivierbares Wissen ist speziell bei diesem Thema schwierig zu erhalten, z. B. die Frage, ab wann und wie weit der Fetus in utero wahrnimmt. Aber da das Herz des Embryos ab der ca. 6. Schwangerschaftswoche zu schlagen anfängt und das Ohr  bereits angelegt ist, gehen Forscher davon aus, dass der eine den anderen hört, das Herz und den Blutkreislauf, den Schluckauf  und andere Umgebungsgeräusche. Dr. Jean – Guy Sartenaer – ein Spezialist aus Belgien für pränatale Medizin - geht davon aus, dass Zwillinge den Tod des anderen ab etwa dem zweiten Schwangerschaftsdrittel wohl grundsätzlich spüren, oft dem toten Geschwister ausweichen, sich ganz zurückziehen in die Gebärmutter und sich kaum noch während der Schwangerschaft bewegten. Zudem nimmt er aufgrund der entwickelten Geschmacksknospen ab der 10. Schwangerschaftswoche bei Föten an, dass diese eine veränderte Zusammensetzung des Fruchtwassers nach dem Tod des anderen wahrnehmen würden. Immer wieder wird kritisch gefragt, ab wann ein Fötus versteht, ein Bewusstsein vom anderen entwickelt, wenn überhaupt. Ab dem ca. sechsten Schwangerschaftsmonat entwickelt sich die elektrische Aktivität der Großhirnrinde zu einem differenzierten und alternierenden REM- und Non – REM – schlafähnlichen Muster, was für Bewusstsein spricht. Gezielte Reaktionen z. B. bei Fruchtwasserpunktionen widersprechen dabei nicht der eigentlichen Bestimmung der Gebärmutter, durch intrauterine Homöostase (gleichförmige Temperatur, Schwerelosigkeit, abgefederte taktile Stimulation, etc.) optimale Bedingungen zu schaffen. Aber ist der überlebende Zwilling deswegen ein gehirnunreifes Wesen, das nichts wahrnimmt? Und was ist dann mit dem Feldgedächtnis, dem körpergebundenen Gedächtnis, dem Hören, dem Tastsinn, dem Schmecken, dem Sehen? Wir wissen heute aus der Praxis der Traumatherapie, aber auch der Schmerztherapie und anderer Störungsgebiete, dass sowohl Gehirn als auch Körper als Informationsspeicher miteinander vernetzt sind durch Rezeptoren v.a. im limbischen System, das sich als erstes entwickelt (Sitz der Emotionen), sowie durch biochemische Prozesse in den einzelnen Körperzellen. Hier wird von der Pränatalmedizin zum Teil davon ausgegangen, dass im Sinne der Evolution der Fetus in utero durch eine Reihe endogener Hemmstoffe aktiv schlafend  (und damit auch unbewusst) gehalten wird. Dass der Tod eines Zwillings im Mutterleib nicht unbedingt auf der Hand liegt, ist vergleichbar mit anderen traumatischen Erlebnissen, die bis zu ihrem Begreifen, Aufdecken und bewussten Erkennen zwar triggern, aber eben nicht einsortierbar sind. Ob dieser Schock tatsächlich der Auslöser z. B. jahrzehntelanger Beziehungskonflikte ist oder doch ein Modelllernen von einer Mutter, die selber mit dem Tod eines Zwillingskindes bewusst oder unbewusst hadert, oder ganz etwas anderes eine Rolle spielt, das entscheidet letztendlich der Mensch, der unter Leidensdruck nach einem Lösungsweg aus dem für ihn unbegreifbaren Leiden sucht. Und welches Erklärungsmodell dann schließlich das passende ist, eben auch.

Dipl.-Psych. Sylke Aust ist Psychologische Psychotheraeutin und Leitende Psychologin am Σ Sigma-Zentrum Bad Säckingen