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Mich wieder mit klarem Kopf auf die Partnerschaft konzentrieren zu können, das war das größte Geschenk.

Alles hat seinen Sinn, wenn es uns nützt

Von: Prof. Dr. Erich W. Burrer | 04.09.2014

Oder: Was ist Toleranz?

Über die Aussage, "Alles hat seinen Sinn, wenn es uns nützt.", wird man im ersten Moment denken, sie beinhalte, dass jeder ein Egoist sein muss. Das möchte ich damit natürlich nicht ausdrücken, sondern es geht darum, dass der Mensch über viele tausende von Jahren gelernt hat, das zu tun, was ihn befähigt, um zu überleben. Das bedeutet, dass er über hunderttausend Jahre konditioniert wurde, das zu tun, was ihm nützt.

Dieses als Utilisation bezeichnete Prinzip ist natürlich nicht nur darauf ausgerichtet, dass wir an uns denken. Es ist gleichwertig darauf ausgerichtet, dass wir sozial denken und handeln. (Dieser Gesichtspunkt wird von den Gegnern des Nützlichkeitsdenkens verschwiegen.) Soziales Verhalten nützt uns, besonders in einer freien Gesellschaft, weil Regeln jedem nützen. Geht es dem anderen gut, mit dem wir Handel treiben, geht es auch uns gut. Insofern ist Ethik und soziales Verhalten mit dem Begriff der Utilisation oder der Freiheit in Einklang zu bringen. Auch Liebe nützt uns, wie Sie wissen; denn sind wir verliebt, leben wir auf und haben vielleicht die Möglichkeit, eine stabile Beziehung einzugehen. Wir fühlen uns vom anderen geliebt und haben so das Empfinden der Geborgenheit.

Bekommen wir Kinder, hilft es allen, denn sie sind unsere Zukunft und der Garant einer stabilen Gesellschaft. Nebenbei bemerkt sterben wir Menschen nicht aus. Kinder nützen aber auch den Eltern, da sie sich gebraucht und geliebt fühlen. Kinder geben ihrem Leben einen Sinn. Etwas sachlicher ausgedrückt: Kinder und junge Menschen nützen der älteren Generation, da sie im Alter diese direkt oder indirekt (Rente) versorgen.

Andere Menschen greifen in einer freien und offenen Gesellschaft wiederum auf andere Sinninhalte zurück, die ihnen nützen. Auch diese geben ihnen Halt. Jedes Konstrukt gibt Halt, wenn es sozial vermittelbar ist. Selbst wenn wir nur glauben, dass ein guter Geist uns beschützt, nützt diese Vorstellung autosuggestiv. Vorstellungen geben uns also Geborgenheit, besonders, wenn diese vom Umfeld z. B. einer liberalen Gesellschaft respektiert werden.

Die Frage, an was jemand glaubt, ist systemisch gesehen ohne Bedeutung. Es nützt. Daher wird in einer offenen und freien Gesellschaft kein Mensch seines Glaubens wegen verfolgt. Interessanterweise sagt auch der Dalai Lama beispielsweise, dass jeder, der glaubt, für ihn geerdet ist und er dessen Religiosität bzw. dessen Vorstellungen von Glauben nicht in Frage stellen würde.
Glaube, Ethik und damit Regeln nützen dem Menschen, d.h. sie geben ihm Halt. Also gehören sie auch in eine freie Gesellschaft.

Ein Mensch, der an etwas glaubt und deshalb mit sich stimmig ist, ist für die Gesellschaft ein in sich ruhende Persönlichkeit, mit der man Konflikte austragen kann, ohne sich gegenseitig zu bedrohen.
Deshalb ist konstruktivistisches Denken, das Halt gibt, bzw. eine Struktur darstellt, für eine freie Gesellschaft sehr bedeutsam, um sich als Individuum friedlich abgrenzen zu können, bzw. dadurch autonom zu werden.
Struktur und Liberalität sind somit keine Gegensätze sondern zwei Seiten einer Medaille (wenn wir trotzdem überzeugt sind, dass der andere nach einer Diskussion das Gleiche wie wir denken muss, liegt dies wohl an unseren Selbstzweifeln).

Ethische Sinninhalte, soziale Überzeugungen oder Glaube sind in einer liberalen Gesellschaft wichtiger denn je, da Menschen heute wenig Orientierung haben, bzw. oft keine emotionale Verankerung und Bindung erleben. Eine materiell begründete Utilisation hat vielleicht früher in kleinen Einheiten funktioniert, als die Ernährer glaubten, zu verhungern, wenn sie nicht ständig egoistisch handeln und um ihr Leben kämpfen. Politisch führte sie zu zwei sinnlosen Weltkriegen in den letzten 100 Jahren. Heute verhärtet diese Denkweise unsere Gesellschaft wieder, indem ein Kollege der potentielle Feind des anderen ist und nicht sein brüderlicher Gegner. Sie begünstigt die Flucht in Drogen, Konsum und sektiererische Systeme, da anstelle des Wettbewerbs die Vernichtung des Gegners steht.

Wir verhungern in Europa nicht mehr so leicht, deshalb müssen wir eigentlich unsere Vernunft und Ethik nicht mehr über Bord werfen, um zu überleben. Diese archaischen Verhaltensweisen sind aber immer noch in uns verankert und bedrohen eine liberale Gesellschaft.
Wir Menschen meinen allzu schnell, dass wir ums Überleben kämpfen müssen und suchen in autoritären Strukturen / Systemen Schutz. Wir alle haben unbewusst archaische Vorurteile in uns verankert, die z. B. im Mittelalter bestanden, zum Teil aber auch in der Gegenwart immer wieder aufbrechen. Wir müssen ja nur daran denken, dass vor 50 Jahren eine Katholikin u.U. keinen Protestanten heiraten durfte und umgekehrt.

Dies sind zum Teil irrationale Konstrukte, die Ihnen sicher geläufig sind. Früher haben sie genützt, da sich Gemeinschaften über ihren Glauben ethisch finden konnten und mussten. Die Religion hatte die Funktion, zu integrieren, damit ein Staat funktioniert. Wenn z. B. alle Menschen im römischen Reich Christen wurden, wie Kaiser Augustus es forderte und durchsetzte, hat dies vor allem ihm gedient und genützt, um seinen Machtraum zu festigen und auszubreiten.

Sozial kann man unschwer ableiten, dass alles seinen Sinn und Nutzen hat, auch wenn es für uns ethisch nicht immer nachzuvollziehen ist.
Ein ausgeprägter Sinn und Nutzen ergibt sich aber wohl für uns alle, wenn ein Kind auf die Welt kommt und Bindung benötigt. Meist ist es hilflos, niedlich und freut sich im Laufe der Jahre, wenn es von Eltern, Großeltern oder anderen Menschen freundlich und liebevoll umsorgt wird. Es lacht, es reagiert und entwickelt Bindung. Wir als Erwachsene erleben dabei Ursprünglichkeit und Offenheit des Kindes, die uns begeistert, dieses erhält von uns Liebe, Erziehung und Geborgenheit. Beide Seiten geben sich so etwas Wertvolles ohne Druck, ohne Zwang und ohne Angst. Sie wollen es. Das ist Liberalität und Kreativität.

Aus diesem Grund würde ich niemals Eltern in Frage stellen, die ihr Kind relativ kritiklos lieben. Sie wollen es vielleicht so lieben, weil es dem Kind hilft, geerdet zu werden. Und auch sie haben einen Nutzen davon. Sie werden gebraucht und finden einen Sinn in ihrem Leben. Eltern und Kind lieben sich freiwillig und ohne Zwang, das Kind, weil es die Eltern benötigt, die Eltern, weil sie im Kind sich selbst wiederfinden. Anderenfalls wäre es nicht denkbar, dass Mütter mit Freude und Begeisterung die Windeln ihrer Kinder wechseln, obwohl diese stinken. Es ist in Ordnung, da sie das das Kind süß finden, lieben und gerne für dieses sorgen.

Die Utilisation ist manchmal aber auch schicksalhaft und hart, denn nur in gewissen Phasen des Lebens nützt uns jemand. Wenn der Nutzen vorüber ist, ist die Affinität von uns und dem anderen nicht mehr vorhanden. Das ist nicht unbedingt schön, aber für unser soziales Über-leben sinnvoll, sogar manchmal notwendig. Erkennen können wir aber die Notwendigkeit zur Trennung nur, wenn wir frei sind, bzw. dadurch gelernt haben, Entscheidungen zu treffen.

Ich habe drei erwachsene Söhne die inzwischen ihr Leben leben können. Daher nütze ich ihnen nicht mehr so viel wie in ihrer Kindheit. Emotional gesehen gehen sie meist ihre eigenen Wege, ich kann sie mit Rat oder Zuneigung begleiten. Ich kann aber nicht mehr von ihnen verlangen, dass sie ständig mit mir kommunizieren, bei mir leben und mit mir zusammen sind. Diese Trennung in Freiheit und Zuneigung ist für manche Eltern aber nicht verständlich. Sie hängen extrem an ihren Kindern. Sie befinden sich u.U. sogar in einer pathologischen Abhängigkeit.

Im Gegensatz zu den Kindern nützt es ihnen, dass sie diese um sich haben, z. B. damit sie nicht alleine sind.
Gleichwohl müssen Kinder sich von ihnen trennen, wie wir es aus der Geschichte gelernt haben, damit sie frei sind und lernen, Verantwortung zu tragen. Deshalb ist die sehr enge Beziehung zu Eltern beendet, wenn Kinder autonomer werden und sich trennen. Sie nützt nicht mehr.

Philosophisch gesehen ist Trennung ein ständiger Prozess des Lebens und damit Teil menschlicher Freiheit. Sie beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod. Der Mensch erwartet analog im Alter vom Leben weniger, da er Bindung und Trennung verinnerlicht hat. Es wiederholt sich vieles, folglich hat er auch nicht mehr die enge Beziehung zu den Kleinigkeiten des Alltags. Er wird vielleicht beschaulicher. Die Neugierde ist gestillt, er weiß wie das Leben ist, es wiederholt sich vieles.
An diesem Punkt ist es wichtig, dass er sich neu orientiert, vielleicht sich der Literatur zuwendet oder sich für Themen der Wissenschaft oder Natur interessiert. Er lernt vielleicht Dinge des Lebens kennen, die ihn früher nicht interessierten, als er damit beschäftigt war, seinem Beruf nachzugehen oder seiner Familie gerecht zu werden. Stattdessen nützt ihm u.U., wenn er mit siebzig Jahren anfängt, zur Volkshochschule zu gehen, um Französisch zu lernen oder zur Universität, um am Studium Generale teilzunehmen.
Es gibt ihm geistig etwas. Da es ihm auch emotional gut tut, lebt er auf und ist für seine Mitmenschen wieder attraktiv. Das ist Freiheit.

Was uns nützt, ist in einer liberalen Gesellschaft, wie Sie aus meinen Worten ableiten konnten, Geschmacksache. Deshalb ist es legitim, dass wir Beziehungen mit der Vorstellung eingehen, dass diese ein Geben und Nehmen beinhalten. Dies gelingt nur in Freiheit.

Liberalität und Utilisation sind deshalb essentiell, weil wir nur so geistige und emotionale Lähmung vermeiden. Ein Mensch, der nur gibt, wird krank. Er erhält nichts. Unser zentrales Nervensystem braucht aber nicht nur aus physiologischer Sicht Nährstoffe, es benötigt auch "geistige Nahrung". Und es will emotionalen Input. Es sucht nach Bestätigung, Gratifikation und Zuneigung. Bleibt das aus, werden wir krank.
Ähnlich sieht es aus, wenn wir nur erhalten. Wir sistieren, weil unsere Kreativität erlischt.

Insoweit kann es in Ordnung sein, wenn jemand sagt: „du machst mich krank, also tust du mir nicht mehr gut" . Es ist sehr hart, aber für ihn gesundheitlich gesehen nützlich. Denn er ist ein freier Mensch, der sich nicht opfern muss. Er kann gehen, wenn er krank würde oder wird.

Die Affekte und der Körper kennen eben keine Ethik. Wenn jemand am Verhungern ist, muss er etwas essen, wenn er nichts erhält, geht er zugrunde. Er kann nicht sagen, ich lebe von der Nächstenliebe wie eine magersüchtiger Mensch, der sich mit seiner Ethik arrangiert hat. Übertreibt dieser, verhungert er. Genau das Gleiche passiert seelisch mit uns, wenn wir nicht mehr auf uns achten. Wir verhungern seelisch. Nicht jeder traut sich in der Konsequenz dies zu sagen. Denn es ist in unserer Gesellschaft nicht sehr passend, "egoistisch" zu sein. In ihr ist es je nach Umfeld üblich, dass man sich für Familie, Firma oder Staat aufopfert.
Jemand, der sich aber opfert, gibt sich auf. Er existiert irgendwann nicht mehr. Theoretisch kann er nicht mehr leben.
Jemand, der aber etwas vom anderen erhält, sei es nur dessen Lächeln, dessen Zeit, dessen Toleranz oder dessen soziales Engagement, dieser opfert sich nicht.

Utilisation ist somit die Kraft, die unser freies Leben bestimmt. Wir haben es in der Hand, dass diese sinnvoll eingesetzt wird und uns genauso wie unseren Nächsten nicht zerstört.
In erster Linie gibt sie uns aber als Individuen einen Sinn, sie ermöglicht Erdung, weil wir gebraucht werden und andere brauchen.
Was wir in einer liberalen Gesellschaft sicher lernen müssen ist, dass jedem Menschen etwas anderes nützt, z.B. dem Kleinkind eine Zeitlang der Schnuller, dem Erwachsenen vielleicht die Arbeit, dem Senior u.U. die Geborgenheit.

Das Schöne ist, dass wir friedlich und respektvoll miteinander umgehen, wenn wir im Dialog mit dem anderen dessen Überzeugungen belassen, die ihm nützen. Das gehört zur Demokratie und zum humanistischen Denken.

Wenn wir stattdessen den Mitmenschen seiner Überzeugungen wegen in Frage stellen, sind wir in gewissem Sinne diktatorisch, so wie unsere Vorfahren, die wegen ihres Glaubens Kriege führten.

Utilisation ist nach heutigen Gesichtspunkten somit Toleranz und Respekt der Interessen anderer. Dies wäre eine liberale Gesellschaft wie sie von Karl Popper gefordert wird [1992, "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde"].